Genetik ADHS
Blech, Jörg “Gene sind kein Schicksal”, Frankfurt 2010, ISBN 978-3-10-004418-1 (S. 92-93):
“Leon Eisenberg übernahm die Leitung der Psychiatrie am renommierten Massachusetts General Hospital in Boston und wurde zu einem der bekanntesten Nervenärzte der Welt. Auch im Alter von 86 fuhr der Professor noch jeden Tag in sein Büro an der Harvard Medical School.
Doch ausgerechnet er, der wissenschaftliche Vater von ADHS, hat eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Sein Tun als junger Arzt sieht er inzwischen kritisch, und ungläubig verfolgte er, wie ADHS zum Massenphänomen wurde.
Wenn man mit Eisenberg redet, kommt er schnell auf ein Versäumnis zu sprechen, das ihn bis heute reut. »Ich hätte die Mittel eigentlich auch an gesunden Kindern testen müssen«, sagt er und erzählt, wie das dann eine jüngere Kollegin, die Psychiaterin Judith Rapoport, nachgeholt hat. »Judy hatte den Nerv und den Mut, das zu tun, was ich unterließ. Sie nahm ihre eigenen Kinder und Kinder von ihren Mitarbeitern und machte mit ihnen eine Beobachtungsstudie.«
Insgesamt hat Rapoport 14 gesunde Jungen zwischen 6 und 12 Jahren untersucht, die alle sehr gut in der Schule waren. Die Knaben bekamen morgens eine Pille Dextroamphetamin serviert. Und siehe da: Auch diese normalen Kinder zeigten die paradoxe Wirkung, auch sie wurden durch das Aufputschmittel ruhiggestellt. Die paradoxe Reaktion ist also mitnichten ein Hinweis auf eine vermeintliche Hirnstörung, zumal gesunde und angeblich hirngeschädigte Kinder identisch reagieren. Dass sie ruhig werden, liegt an ihrem jungen Alter, wie sich herausstellte: Erst im Erwachsenenalter verspüren Menschen Euphorie, wenn sie aufputschende Medikamente nehmen.
»Die paradoxe Wirkung der verdammten Amphetamine hängt also vom Alter der Konsumenten ab - und gar nicht davon, ob sie ADHS haben!«, ruft Eisenberg. Das bedeutet: Ganz gleich, ob ein Kind nun organisch gestört im Kopf wäre oder nicht: Wenn es Amphetamine nimmt, wird es ruhiger. Doch gerade diese Reaktion haben Kinderpsychiater immer als Beleg für einen erblichen Hirnschaden gesehen.
Es ist dieser pharmakologische Effekt, auf dem der Mythos von Zappelphilipp aufbaut. »Die genetische Veranlagung für ADHS wird vollkommen überschätzt. ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung«, sagt Eisenberg. Und er fährt in seiner Kritik fort: Eigentlich sollten Ärzte viel gründlicher die psychosozialen Faktoren ermitteln, die zu einem gestörten Verhalten führen könnten. Gibt es Streitigkeiten zwischen den Eltern, leben Mutter und Vater zusammen, gibt es Probleme in der Schule? Solche Fragen seien wichtig, aber sie nähmen viel Zeit in Anspruch, sagt Eisenberg und seufzt. »Eine Pille zu verschreiben dagegen geht ganz schnell.« Der emeritierte Professor schaut grimmig drein. Den ADHS-Geist, den er rief, wird er nicht mehr los.“